Dein Song! Kompositionsprojekt an der Helene-Nathan-Bibliothek in Berlin Neukölln
Beim generations- und kulturübergreifenden Projekt „Dein Song!“ komponierte eine 4. Klasse der Rixdorfer Grundschule zusammen mit vier Senioren sieben Songs für die Helene-Nathan-Bibliothek in Berlin Neukölln. Musikalisch geleitet wurde der Workshop von den Musikern Julian Quack, Jürgen Grohs und Deniz Dilek vom app2music e.V. Das Projekt fand vom 3.07. bis einschließlich 7.07.2017 statt und wurde von Martha Ganter von der Helene-Nathan-Bibliothek und mir organisiert. Gefördert wurde es vom Projektfonds Kulturelle Bildung.
Ein wichtige Frage, die uns bereits bei der Vorbereitung beschäftigt: Wie ermöglichen wir es Kindern mit wenigen bzw. keinen instrumentalen und musiktheoretischen Vorkenntnissen auf der einen Seite und älteren Menschen mit tendenziell geringer Erfahrung im Umgang mit Tablets und Apps auf der anderen Seite, gemeinsam zu musizieren und eigene Songs zu komponieren?
Absolute Beginner
Die Senioren sind zuerst da und setzen sich an die bereits aufgebauten Tische. Uns wird gleich zu Beginn von ihrer Seite versichert, dass wir es mit „absoluten Beginnern“ zu tun hätten und wir dieses stets berücksichtigen sollen. Als die Kinder der Rixdorfer Schule eintreffen, bekommen sie Zettel für Namensschilder und jeweils ein einfarbiges Kopfhörer-Set, wobei unterschiedliche Farben unterschiedliche Teams bilden. Die Gruppenfarben werden kurz darauf, wenn es um das Finden eines „Bandnamens“ geht, z.B. bei der Gruppe der roten Kopfhörer pragmatisch reflektiert.
Julian beginnt mit einer kurzen Fragerunde zum Thema „Melodie“ und stellt dabei die App thumbjam vor, mit deren Hilfe man nicht nur stets in der „richtigen Tonart“ bleibt, sondern auch mit verschiedenen instrumentalen Klangfarben von Klavier über Flöten und String Ensemble bis hin zur türkischen Ney erste melodische Motive explorieren kann.
Darauf aufbauend werden die Themen Harmonie von Jürgen sowie Rhythmus und Beat-Programmierung von mir anhand der Apps Sound Prism, Chordpolypad bzw. DM1 vorgestellt. Anschließend werden alle Apps in den Gruppen ausprobiert.
Eine App wie ChordPolyPad eignet sich für die Kreation von Harmoniefolgen, da man hier auf verschiedenen Pads (siehe Screenshot) Akkorde speichern und dann mit nur einem Fingertipp wieder abspielen kann. So muss man sich nicht um Griffe oder das Finden der „richtigen“ Noten kümmern. Stattdessen kann man sofort unterschiedliche Spielabfolgen und deren Rhythmisierung erforschen, worum es beim Komponieren ja geht.
Nachdem erste Riffs und musikalische Ideen ausprobiert und gesammelt worden sind, geht es in den Gruppen an das weitere Komponieren. Während der Gruppenarbeit helfen die Senioren den jüngeren dabei, Ideen und Themen textlich sowie musikalisch auszuarbeiten und zu konkretisieren. Dabei teilen Julian, Jürgen und ich die musikalische Betreuung der verschiedenen Songwriter-Gruppen untereinander auf.
Komponieren in Gruppen
Die Dynamik und die Arbeit in den Gruppen verläuft sehr unterschiedlich. Dabei fällt auf, dass in fast jeder Gruppe sich früher oder später gewisse Bandleader herauskristallisieren. Die Zuteilung von aktiven und passiven Rollen geschieht dabei sowohl durch egoistisches Verhalten mancher Kinder als auch durch die Passivität anderer. Und das passiert, obwohl wir darauf achten, alle miteinzubeziehen und wiederholt versuchen, die etwas Schüchternen aus der Reserve zu locken, damit alle ihren Beitrag an den entstehenden Stücken haben können.
Eine der Gruppen, die ich während des Workshops musikalisch betreue, ist die reine Jungs-Combo, die sich selbst den Bandnamen JBG JUNIOR ( inspiriert durch deren Vorbilder „JBG- jung brutal gutaussehend“) gibt. Als Senior fungiert in dieser Gruppe Christian Kölling, der für das Neuköllner Facetten Magazin schreibt (und auch über unseren Workshop hier einen Artikel verfasst hat). Für die Jungs ist es sofort klar, dass es bei ihnen ein HipHop Song werden muss. Die Basis für ein HipHop-Stück ist der Drum-Beat, den wir aus DM1 in garageband einspielen.
Als nächstes kümmern wir uns um eine viertaktige Akkordfolge für das harmonische Gerüst des Hiphop-Loops. Wir fangen mit einer einfachen Akkordabfolge in A-Moll an und ich spiele der Gruppe verschiedene drei- oder vierteilige Akkordfolgen vor. Letztlich entscheidet sich die Gruppe für die Akkordfolge Am/Dm(add9)/C/D(madd9).
Arpeggios und Autoplay
Aus dem Grund, dass viele Teilnehmer kaum instrumentale Vorkenntnisse haben, eignen sich die Instrumente in garageband im Autoplay und Smart-Modus, um Arpeggios und Riffs auszuprobieren und sich den Ohren folgend für eine Rhythmisierung bzw. Spielweise der Akkorde zu entscheiden. Ein Kritikpunkt, der dabei sicherlich nicht unberechtigt ist, ist die Tatsache, dass so in der App gesetzte Standards lediglich reproduziert werden. Allerdings handelt es sich hierbei eben auch um eine Spielhilfe, die gerade denen behilflich ist, die keine Erfahrung aus dem Instrumentalunterricht mitbringen. Des weiteren kann man so den Fokus auf Aspekte der Klangfarbe, des Collagierens, des Mischens mit Klangeffekten und spezifischer Ästhetiken elektronischer Musikproduktion legen. Sprich man kann komponieren. Im Fall von JBG JUNIOR entscheiden sich die Jungs in Sachen Instrumentierung für eine Gitarre, einen Kontrabass und zusätzlich für die chinesische Pipa( siehe Screenshot).
Die Kinder spielen nacheinander die verschiedenen Instrumente als Akkordfolge in garageband ein. Dabei entstehen Midi- Patterns, die die harmonische und rhythmische Struktur des musikalischen Loops repräsentieren. Diese Pattern könnten jetzt theoretisch kopiert werden und weitere Instrumente ansteuern.
Intuitives Verständnis
Die Funktionen des Schneidens und Verschiebens einzelner aufgenommener Audio- oder Midiclips erschließen sich den Kindern relativ schnell. Entgegen mancher vorheriger Befürchtung verstehen sie fast intuitiv die grundlegenden Funktionen einer digitalen Audio Workstation (DAW). Im Vergleich zu den Workshop-Anteilen, bei denen es um eher klassische musiktheoretische Dinge wie das Komponieren von Melodien und Harmonien ging, fällt auf, dass viele grundlegende Prinzipien elektronischer Musikproduktion vielleicht durch die Erfahrung aus den Medien den Kindern intuitiv geläufig erscheinen. Auch wenn sie sich praktisch damit nicht auseinandergesetzt haben, wissen die meisten Kinder ab einem gewissen Alter was ein DJ tut, wenn er Songs mixt. Das Konzept verschiedene Tonspuren zu mixen und zu collagieren, ist dann nicht mehr weit entfernt.
Arrangement und Mix
Wir besprechen in der Gruppe die Abfolge der Einsätze aller Instrumente im Songablauf und beschließen, klassisch mit dem Schlagzeug, dem Grundgerüst des Beats zu beginnen. Darauf aufbauend folgen Gitarre und Bass, bis der hiphop-typische Loop schließlich fertig aufgebaut ist. Letztlich besprechen wir gemeinsam, wie wir die aufgenommenen Spuren mixen. Dabei frage ich die Kinder, welche Instrumente mehr Bass und welche mehr Höhen, welche mehr zu den Seiten hinaus und welche im Stereo-Bild eher zentral platziert werden sollen. Die Lautstärken justieren sie selbst. Wir spielen unterschiedliche Möglichkeiten durch und so generieren wir gemeinsam einen ersten rohen Mix.
Texten, Rappen, Autotune..
Jetzt geht es ans Texten. Allerdings sind JBG JUNIOR dabei anfangs doch ein wenig zu sehr durch ihre Vorbilder inspiriert, sodass ich beim Lesen ihres etwas altklug klingenden Textes bemerke, dass große Teile einfach von ihren Rap-Vorbildern abgeschrieben sind. Da diese Textpassagen auch mehr in das Genre des Gangsta Raps passen, mache ich mich mit den Junioren daran, einen neuen Text zu entwerfen. Das Thema, das ihnen einfällt ist „Stromausfall in der Bibliothek“ bzw. warum nicht gleich „Stromausfall in ganz Neukölln“. Wir texten Zeile für Zeile und es ist nicht immer so leicht mit der Konzentration währenddessen. Was das Rappen angeht, genießt Raymond bei seinen Bandkollegen einigen Respekt und so schlagen sie einstimmig vor, er solle den Hauptteil rappen. Allerdings gestaltet sich ein flüssiges „Einrappen“ des nicht unkomplizierten Textes auf den Beat schwierig, weshalb wir einen gelungenen Zweizeiler von ihm nehmen und diesen letztlich als textlichen Rahmen für das Stück benutzen. Dazu wird sehr spontan von einem Senior des Nachbartisches die Zeile: “ ja jetzt kommt der Boss Rapper“, die er auf dem Papier des alten Textes gelesen hat, aufgenommen und von den Kindern sofort mit einem vocoderähnlichen Roboter-Effekt versehen. Der Effekt des Autotune, den die Kinder aus vielen zeitgenössischen Popsongs kennen, zieht auch an JBG JUNIOR nicht spurlos vorbei. Tatsächlich fällt auf, dass er bei mindestens drei Songwriter-Gruppen zum exzessiven Einsatz kommt.
Hören und Diskustieren
Am letzten Workshop-Tag präsentieren sich die Gruppen gegenseitig ihre Stücke und diskutieren sowohl lobend als auch kritisch miteinander die jeweiligen Ergebnisse. Viele sind dabei angetan von Ideen der anderen, doch unter den Kindern werden leider auch einige persönliche Dinge über vorderscheinige Songkritik ausgetragen.
Die Rolle der Senioren
Im großen und ganzen können wir sehr zufrieden sein, dass wir sehr neugierige und offene Teilnehmer unter den teilnehmenden Senioren hatten. Werner, der sich z.B. von Anfang an über sein Missfallen der Tablet-Technologie gegenüber geäußert hat, kann dem Projekt und der Zusammenarbeit mit den Kindern dann aber viel positives abgewinnen. Er und die anderen Senioren nehmen während aller Arbeitsphasen sowohl initiative als auch unterstützende Funktionen ein, was der gesamten Gruppenarbeit gut tut. Gleichzeitig können scheinbar – wie zuvor erhofft – auch durch den intuitiven und hemmungslosen Umgang der Kinder mit den Musikapps bei den älteren anfängliche Hemmschranken im Umgang mit digitalen Musik-Tools abgebaut werden.
Die Songs
Die Ergebnisse des Songwritings sind sehr divers ausgefallen. Von Lojens Song, den sie nicht schreibt und nicht singt, weil „der Füller kleckst und das alles nichts ist“ über den lokalpatriotischen Rixi Boss und ein Lied von „keine Namen“ über ein trauriges Gesicht bis hin zu den Bücherwürmern in Songs von Heidara, den Bücherfreundinnen sowie den roten Kopfhörern. Viel Spaß beim Hören!
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